Stromausfall

Wir sind bei der Zürcher Künstlerin Elodie Pong zum „Katastrophen-Dinner“ eingeladen, wir sitzen am Esstisch und basteln uns Sushi. Die dreijährigen Lili und Lila schauen Dominik Dachs auf dem Laptop.

Um zwanzig vor neun geht das Licht aus.

Julien – seit vier Monaten Schweizer – zaubert eine Hochleistungstaschenlampe hervor. Wir haben bereits gefürchtet, Hurrikan Sandy würde uns ausser Geschepper im Backyard und Berge von Grünzeugs auf der Strasse hier im East Village, Evakuationszone D, nichts an extraordinären Erfahrungen und Responsibilitäten bescheren.
Nun, endlich: Bewährungsprobe.
Um die Batterien ihres Laptops zu schonen, ist nun fertig mit Dachs und Katzenpiraten. Alle Taschentelefone haben noch Empfang, aber man macht sich Sorgen, wo die I-Phones aufgeladen werden können. (Achtzehn Stunden später bietet der Polizeiposten, unser Nachbar, einen Telefonaufladservice an.)
Linda Geiser, unsere Landlady, klopft und verteilt Taschenlampen und Rechaudkerzli an die Familien.
Mit einer Taschenlampe im Mund mache ich mich an den Abwasch. Als wären wir in der Alphütte im Simmental.
Julien und ich wetten, wann wir wieder Strom haben werden. Der Verlierer schuldet dem Gewinner ein vierzeiliges Gedicht.

Am Morgen: kalt duschen. Gedicht schreiben. Die Milch ausmachen. Kein Strom bis hinauf zur 39. Strasse, berichtet Lindas Gatte.
Die Performance-Künstlerin Gisela Hochuli, deren heutiger Auftritt abgesagt worden ist (wie überhaupt alle Veranstaltungen in Manhattan, von Kellerkino bis Broadway), ist gestern zu müde gewesen, um den Rückflug umzubuchen, und jetzt ist sie – ohne Netz, mit einer nutzlosen E-Bookers-Telefonnummer – im Seich.
Frühstück bei Julien und Jasmin. Pancakes mit Ahornsirup und italienischem Kaffee, das Gas funktioniert noch.
Fürs Radiogerät fehlen uns grosse Batterien. Julien klebt kleine Batterien mit Isolierband zusammen, schneidet mit seinem Victorinox Drähte zurecht und schafft es, dieses Mac-Guyver-Konstrukt an den Ghettoblaster zu hängen. Wir sind wieder verbunden mit der Welt und hören Nachrichten auf WNYC:

The Aftermath of the Storm … The new world we’re living in … Stay home today! … It will be a long clean-up here … 7 millions without electricity … no public transportation today … seven deaths …. 200 patients and two babies evacuated … two british soldiers shot in Afghanistan …

Spaziergang.
In den wenigen offenen Läden tappen die Leute im Dunkeln, suchen mit Taschenlampen nach Pasta und Tomatensauce.
Der Mann an der Kasse packt die Sachen ein und addiert aufs Geratewohl: „Five, six, eight, eleven Dollars. Have a nice day.“
Ein anderer Shop verteilt gratis ihr Häagen-Dasz-Eis. Alle Kühlschränke und Tiefkühler bis zur 39. Strasse sind ausgestiegen. Wir fragen uns, wieviele Esswaren in den nächsten Tagen von Läden und Restaurants fortgeschmissen werden müssen.
Die meisten Einsatzwagen des Elektrizitätswerks am Union Square sind ausgefahren.

Um diese Skizze zu senden und Fragen nach meinem Gesundheitszustand zu beantworten, marschiere ich vierzig Strassen hoch zum nächsten Starbucks mit funktionierendem WiFi.