Julia und Leonid

1
Leonid gibt sich als Schauspieler aus. Er sieht gut aus – hat lockiges, hellbraunes Haar und das Gesicht eines raffaelitischen, ewig-schuldlosen Engels. Zwei Wochen ist es her, seit er versucht hat, ein hundertzwanzig Gramm schweres Diamantencollier aus der Auslage eines Juweliergeschäfts in Neuenburg zu stehlen. Die Verkäuferin, die sich ihm entgegengestellt hat, nimmt noch immer die Nahrung durch einen Strohhalm zu sich.
Beim Überfall auf eine Tankstelle in Stans vor einem halben Jahr hat Leonid den Pächter erstochen – „Das Leben von Martin Bosshard ist in seiner Kürze von Gott als vollendet angesehen“, hat der Pfarrer an der Beerdigung gesagt.
Im Coiffeurladen gibt’s nichts zu holen – insofern scheint Julia in Sicherheit. Aber Leonid ist völlig blank – insofern ist die Ladenkasse ein durchaus verlockendes Ziel. Und Julia steht zwischen ihm und der Kasse.

2
Im Coiffeurstuhl neben Leonid döst ein alter Mann, während Coiffeuse Rita diesem die grauen Nackenhaare rasiert.

3
Leonids Problem ist, dass er kein Ziel hat, keine über den Tag hinausreichenden Pläne.

4
Zwar hat Häfliger den Polizeidienst quittiert, aber auch als Privatmann führt er den Kampf gegen die Unterwelt weiter. Einen Ring von korrupten Regierungsbeamten und skrupellosen Kredithaien hat er zerschlagen. Als nächstes will er den Babykopf, den er unschwer als den Stanser Tankstellenmörder erkannt hat, zur Strecke bringen.

5
„Ich lese von Stücken immer nur die letzte Seite“, sagt Leonid. „Wenn ich feststelle, dass ich das letzte Wort habe, sage ich zu.“
„Wenn Sie mir zwei Tickets für Ihre nächste Vorstellung geben, brauchen Sie heute nichts zu zahlen“, sagt Julia und greift nach dem Nackenpinsel.
„Ein faires Angebot!“
Unter seinem Umhang hat Häfliger dem Polizeikommandanten eine SMS gesandt. Die Schweizer Illustrierte rutscht ihm vom Schoss. Leonid dreht sich zur Seite. Einen kurzen Moment schauen sich Häfliger und Leonid in die Augen.
Leonid springt aus dem Sessel, reisst sich den Umhang vom Hals, klopft Häfliger auf die Schulter und ist in der nächsten Sekunde aus dem Laden verschwunden.

6
Den Wagen des Gangsters beschreiben Julia und Rita als grau, Häfliger als blau. Sie haben ihn nur von hinten gesehen, und keiner hat das Fabrikat oder gar das Kennzeichen erkannt. Jedenfalls, als die Polizei kommt, ist Leonid längst im dichten Abendverkehr untergetaucht.

7
Die ganze Fahrt über kratzt und sticht es Leonid im Nacken. Es kommt ihm vor, als trüge er ein neues Hemd – eines, aus dem er die Verpackungsnadeln herausziehen vergessen hat.